Willst Du viel, fahr nach Kiel
Nun stand sie also an, die erste „richtige“ Auswärtsfahrt für die Diagonalisten. In der zweiten Runde der Oberliga sollte es nach Kiel gehen, zum Mitaufsteiger Doppelbauer. Und die Doppelbauern waren nicht nur Mitaufsteiger, sondern auch die Mannschaft, die zusammen mit uns am Ehesten eine Chance auf den Titel „Favoritenschreck“ haben, begegnet man schließlich ausschließlich Favoriten. Schon vor der Saison war also klar, würden wir um den Klassenerhalt spielen wollen, dann liegen hier am Ostseestrand Big Points, die wir mit zurück nach Hamburg nehmen wollen. Ist ja auch nicht mehr so das Badewetter.
Was vor der Saison hingegen nicht klar war, war, dass Christophs „Worst-Case-Szenarios“, wie er sie im Bericht zur Landesligaabschlussrunde beschrieb, rosafarbene Einhörner-und-Regenbogen-Bildbändchen waren. Mit all den Langzeitausfällen waren wir froh, dass wir überhaupt 8 spielberechtigte und transportfähige Spieler zur Verfügung hatten, selbst Christoph hatte die Lebensmittelvergiftung kurz vor dem Treffpunkt abschütteln müssen – bei anderer Ausgangssituation wäre er wohl im Bett verblieben. So konnte er immerhin das Ziel „FM-Titel-Antragsberechtigung“ ins Auge fassen (ein Remis wurde benötigt) oder, im Falle einer Niederlage, zeitlich etwas nach hinten zu verschieben. Und die Konstellation führte dazu, dass Etienne, Marten und Tobias ihre Oberligataufen bekommen sollten.
Der Anfang verlief schon einmal vielversprechend. Die Mannschaft traf sich zu einer Zeit vor dem Haupteingang des Spiellokals in der Max-Planck-Schule, zu der sogar ein Heimspiel gegen Diogenes noch hätte angepfiffen werden können. Und der Mannschaftsführer der Kieler sah uns auch prompt, dachte sich „Sonntag Morgen, Männergruppe, nicht offenkundig besoffen – das könnten Schachspieler sein“ und war so nett uns in Empfang zu nehmen und den Weg zu den Spielräumen am anderen Ende der Schule, gefühlt ca. sechseinhalb Kilometer entfernt, zu weisen. Nach den üblichen Erläuterungen, wo Kaffee und Wasser herkommen und wo sie später hinsollen, fingen wir einverständlich schon kurz vor Elf an, die Uhren zu starten. Historischer Zuseher dieses unparteiischen Moments war Dennis Papesch aus der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt.
Weniger unparteiisch, gar jeweils gegensätzlicher Meinung dazu, wer gewinnen solle, waren die Paare aus Christoph und Magnus Arndt (2312), Niels Jørgen und Mads Beeck (2103), Matthias und Lukas Wanner (2107), Divyam und Julian Rieper (2105), Martin und Bülent Saglam (2103), Etienne und Mohammed Reza Ghadimi (2090), Marten und Sebastian Buchholz (2161), sowie Tobias und Jonas Rempe (1816). Alle Zahlen sind Elo, weil der Berichterstatter die Dwzen nicht raussuchen wollte.
Und während die anwesenden aktuellen und ehemaligen Mathematiklehrer sich noch an der schönen Elo-Zahlenfolge der Heimbretter 3 bis 5 erfreuten, wurden auch bereits die ersten Züge gespielt. Erster psychologischer Punkt für uns: Mads Beeck gilt als Theoriekenner – er spielte aber gegen einen Fries Nielsen, da brachte alles Buchwissen schon einmal nichts. Eher ein Minuspunkt: Martin hatte viel im Caro Kann vorbereitet, die Variante mit 1. … e5 allerdings nicht, die allgemein zu für CK eher unüblichen Stellungsbildern führt. Als Ex-Schüler des FEG kennt er die entstehenden Stellungen allerdings natürlich im Schlaf. Ansonsten zog man halt so vor sich hin und erreichte Stellungen. Christoph holte sich schon einmal die Erlaubnis, schnell remis zu spielen, da er noch angeschlagen war – falls der Gegner das mitgehen würde. Davon abgesehen kam er normal gut aus der Eröffnung heraus, während NJ an 2 trotz Theorieverweigerung noch nicht wirklich gewonnen stand. Alles wie in der Landesliga halt, abgesehen vom Anfahrtsweg. Und der Tatsache, dass ich noch weniger qualifiziert bin, die Stellungen zu kommentieren. Ich tue es trotzdem.
Die ersten Bretter, die auch dem Zuschauer etwas boten (und davon hatten die Kieler im Tagesverlauf deutlich über Ligaschnitt), waren wohl 4, 7 und 8. Divyam sah sich einer Art Österreichisch-Ungarischem Angriff ausgesetzt (oder wie auch immer es heißt, wenn man beim Österreichischen Angriff auch noch weiter östliche Bauern miteinbezieht). Das mag sehr gerne übereilt gewesen sein, aber es barg nicht wenig Gefahren für den Schwarzen. Marten sah ein bekanntes Bauerngewinnmotiv und lernte, dass seine bisherige Annahme „in 70% der Fälle gewinnt es einfach, in 30% der Fälle verliert es glatt“ zu erweitern ist um „in manchen Stellungen kann man es spielen ohne dass es die Partie beendet“. Ein anderer Zug hätte klaren Vorteil versprochen, aber aus der erwähnten Zuschauersicht ist Mehrbauer gegen Kompensation natürlich erfreulicher. Tobias hingegen ist nicht nur der promovierteste Jurist, den wir je auswärts in der Oberliga eingesetzt haben, sondern provozierte auch ein hochgradig inkorrektes Figurenopfer seines Gegners. Leider nicht absichtlich, sodass die Gewinnvariante nicht aus dem Handgelenk floss, und das Kernmotiv „ein König kann im Mittelspiel auch mal auf f6 vor jeglicher Nachstellung sicher sein“ nicht ganz offenkundig war und nur deutlich später mit Computerhilfe entdeckt wurde. Somit lenkte er lieber langfristig in ein Wenigerbauernendspiel ab.
Weniger spektakulär waren da Matthias, Martin oder Etienne. Normale Züge führten zu angenehmen Stellungen ohne Probleme, bei denen die 1 aber auch noch nicht eingetragen werden konnte. Christoph begrub derweilen seine Remispläne als es ihm gelang, das Läuferpaar zu erobern – jetzt sollte doch erst einmal geschaut werden, ob man nicht auch gewinnen kann. Immerhin fingen auch die ersten anderen Bretter an, nicht so gut zu stehen. Divyam sah sich einem Bauernhebel ausgesetzt, der nicht eingeplant war, und wechselte in den Modus des Irgendwie-hält-noch-alles. Bei Etienne kam irgendwie durch nur scheinbar planlos hoppelnde gegnerische Ponys etwas Bauer abhanden, als ich gerade nicht richtig hingesehen habe, während bei Marten die Kompensation des Gegners für den Bauern erheblich wuchs, während ich offensichtlich ebenfalls nicht richtig hingesehen habe. Und NJ stand auf einmal auch unschön – spätere Analyse ergab „direkt nach Einschlag verloren“. Nur Matthias und Martin konnten neben Christoph wohlwollend und gutgelaunt auf ihre Klötze blicken.
Erstes Tor für die Kieler dann das 1:0 an Brett 7. In eh schon (aus Gastgebersicht) sehr hoffnungsvoller Lage ging auf einmal ein taktisches Damenopfer, das alles beendete. Zusätzlich betrübend (aus Gästesicht) war, dass man nur aufgeben und den Gegner nicht einmal schön Matt sezen lassen konnte. Das zweite Tor für die Kieler war dann ebenfalls das 1:0 – von Holstein in Stuttgart in Überzahl, was einigen Heimspielern moralischen Aufwind gab, während die Gäste keine Spiele von HSV oder St. Pauli als Moraldoping nutzen konnten. NJ konnte immerhin eine Remischance nutzen, ein eher glücklicher halber Punkt, den man gerne mitnimmt.
Und wer meint, dass wir mit diesem Glücksschlag über den Berg waren, der sollte Recht behalten, von nun an ging’s bergab. (Achten Sie auch in diesem Bericht auf schamlos geklaute Uraltplattkalauer.) Divyam wechselte von „Irgendwie hält noch alles“ zu „Irgendwie hält alles nicht mehr“ und es stand ½:2½. Etienne bekam zwar seinen Wenigerbauern vorerst wieder, aber die weißen Figuren des Gegners standen einfach zu gut, ein Bauer würde zurückumfallen, wenn der Gegner denn wollte, man kann aber auch auf Umwandlung gehen. ½:3½. Und Tobias leistete Gegenwehr und entwickelte mit seinem eigentlich kompensationslosen Wenigerbauern durchaus Gegenspielideen, aber sein gerade einmal elfjähriger Gegner erwies sich als zu abgezockt und ließ im Endeffekt nichts anbrennen, sodass mit ½:4½ nur noch die größten Optimisten an eine Wende zu glauben wagten.
Als nächstes war Martin dann fertig, kurz vor der Zeitkontrolle passierte in ansonsten schöner Stellung eine Ungenauigkeit, die durch Festlegung der Bauernstruktur und Aufgabe von Hebelideen aus einem sehr spielbaren Turm- ein sehr wenig spielbares Bauernendspiel machte, und eine Austempierung später schüttelte er auch die Hand seines Gegenspielers. King Kubi der Dähne hingegen hatte zwar von Läufer- auf Springerpaar (je Spieler einer) gewechselt, aber wie wir alle neulich im Endspieltraining lernten: Figurenspiel und starke Bauern sind wichtiger als rein materialistisches Denken, und mit aktivem K+S gegen passiven war dann Bauernmarsch nur noch eine Frage der Zeit. Ehrenpunkt – und zur endgültigen Krönung des Königs war das auch noch die fehlende FM-„Norm“.
Matthias als letzter Mohikaner stand schon geraume Zeit sehr schön und konnte den Gegner massiv einengen, er beherrschte praktisch die Reihen 1 bis 6 im Doppelturmendspiel. 7 und 8 allerdings fehlten, und dort gab es nach allen Mühen kein Durchkommen, Remis zum Endstand von 2:6 nach für unsere Verhältnisse sehr kurzen 5 Stunden.
Unser Spiel und unsere Leistung war sicherlich nicht so schlecht, wie das Ergebnis es vermuten lässt, mit etwas Glück hätte es mehr sein können – aber auch nicht so gut, wie der erste Teilsatz anzudeuten scheint. Gegen den nominell gleichwertigsten Gegner waren wir letztlich chancenlos und haben verdient verloren. Positiv kann man mitnehmen, dass wir 8 Spieler aufbieten konnten – was nicht so trivial war, wie es sich liest – und das Christoph zum Titelträger mutieren kann – was vermutlich auch nicht so trivial ist. Außerdem noch positiv zu vermerken, dass auch in Kiel anständiges Speisen möglich ist, wobei die Frage, ob Matthias sein Steak zurückgehen lassen musste, sicherlich von jedem richtig beantwortet werden kann.
Nach einem für Hamburger Mannschaften ernüchternden Wochenende zieren also nun vier der Hamburger Vertreter mit je 0:4 Punkten die letzten vier Plätze der Oberliga. Einziges Team mit 2:2 ist der HSK – der gegen Diogenes nicht verhindern konnte, dass Punkte in Hamburg bleiben werden. Es scheint, dass wir auch in den Derbys in Hamburg die Punkte werden holen müssen, wenn wir eine marmstorfeske Wunderrettung erreichen wollen. Wir wollen da die zarte Rose der Hoffnung nicht zu früh in den Sand des Trübsinns gießen (sagt man das so?), aber noch wichtiger wäre es natürlich, wenn sich die Personalsituation wieder entspannen würde.